Bundespräsident Joachim Gauck hat in der vergangenen Woche in Berlin mehrere ehrenamtliche Initiativen besucht.
Er möchte die Kiezarbeit unterstützen, doch in Kreuzberg muss sich das Staatsoberhaupt plötzlich Beschimpfungen von Demonstranten anhören. Angst um ihre Arbeit hat Nabila. Deshalb kommt es ihr zupass, dass Bundespräsident Joachim Gauck sich für einen Besuch im Berliner Kiez angekündigt hat, an diesem Morgen ist es sehr windig, Gauck bahnt sich seinen Weg vorbei an Totempfählen und einem Dschungelspielplatz, seine Partnerin Daniela Schadt ist ebenso an seiner Seite wie der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky.
Gauck hatte sich für den Thementag „Integration und gesellschaftliche Vielfalt“ eine Gesprächsrunde mit Neuköllnern Stadtteilmüttern gewünscht, die Runde ist im interkulturellen Kinder- und Elternzentrum am Tower neben dem Tempelhofer Feld zu Stande kommen. Die Stadtteilmütter sind an ihren dunkelroten Schals schnell zu erkennen, neben Nabila sind auch noch ihre Kolleginnen aus der Türkei, Ungarn, Burkina Faso und Serbien gekommen. Das Projekt existiert seit einer Dekade, Frauen aus verschiedenen Nationen bieten Familien Hilfe an, die ansonsten niemanden an sich ranlassen und mit den Behörden auf Kriegsfuß stehen.
Nabila schildert ihre Herkunft und lässt aber wissen, dass sie in ihrer Heimat Marokko erfolgreich Jura studiert habe, ihr Gatte Iraker und sie Mutter einer Tochter sei, seit neun Jahren in Berlin lebe. Zuvor habe die Familie auch schon mal in Libyen gewohnt, weshalb sie unterschiedliche arabische Dialekte spreche. Optimale Voraussetzungen, um die zehn Themen der Stadtteilmütter in gesellschaftsferne Familien hineinzutragen. Dazu zählt unter anderem der Umgang mit Computern und Fernsehen, die Suchtvorbeugung, das Thema Gesunde Ernährung und die Spracherziehung. Aus Rumänien stammt hingegen Christina, Mutter von sieben Kindern, sie kümmert sich um Sinti und Roma.
Gauck verhehlt nicht, dass er von diesem Projekt und den Frauen sehr begeistert ist. Gauck fragt, wie neben der Familie noch Zeit für die Arbeit sei. Die Rumänin erklärt ihm: „Ich wollte mal etwas für mich tun.“ Der Bundespräsident antwortet begeistert: „Solche Beispiele brauchen wir.“ Gauck findet gut, dass er keine Klagen von den Frauen hört. Heinz Buschkowsky, der Bürgermeister Neuköllns, ist dagegen der Mann für die Politik. Er verrät, dass für dieses Projekts bald keine Mittel mehr bereitgestellt würden und dass es vom Goodwill des zuständigen Behördenbeamten abhänge, ob die Mütter ihre Arbeit weiterführen dürften, da sie vom Jobcenter im Rahmen von Beschäftigungsmaßnahmen finanziert werden.
Der Bundespräsident kontert: „Das darf nicht sein. Hier haben sie mich als Verbündeten. Die Zukunftsfähigkeit Deutschlands liegt darin, in einem Einwanderungsland zu leben“, so Gauck. „Es sei denn, die Biodeutschen treiben einen neuen Babyboom voran.“ Gauck ist alarmiert, als er erfährt, dass im Neuköllner Kiez rund 450 Kindergartenplätze fehlen. Gauck will jetzt den Job der positiv denkenden Frauen retten, Gaucks Lebensgefährtin Schadt bekommt den roten Schal einer Stadtteilmutter ehrenhalber überreicht kurz bevor sie den Kiez verlassen.
Anschließend geht’s nach Wedding weiter. Stadträtin Sabine Weißler spielt in der Bibliothek des Luisenbades auf die Bezirkskontraste zwischen Zerfall und Kunst an. Witzige Passagen aus seinem Buch „Hauptsache nichts mit Menschen“ liest Schriftsteller Paul Bokowski vor, der aus Polen stammt. Gauck zeigt erneut Begeisterung, diesmal ist er über den tollen Heimattext erfreut. Zwei große Probleme treten dann in der offenen Diskussion zu Tage: Mangel an Sprachkenntnissen und die Armut. Gauck fasst die Diskussion anschließend zusammen: „Ehrenamt ist zwar gut, darf die Politik aber dort, wo sie Herausforderungen annehmen muss, nicht entlasten.“
Am Nachmittag kommt Gauck dann nach Kreuzberg. Bei der historischen Einordnung des Bezirks soll laut Protokoll eine Fotoausstellung über die Demonstrationen des 1. Mai behilflich sein. Das typische Kreuzberg-Feeling stellt sich jedoch schon alleine deshalb ein, weil echte Demonstranten auftauchen und schreien: „Gauck an die Front!“ Der Präsident lässt sich davon nicht ins Bockshorn jagen, sondern redet mit Vertretern der populären Integrationsprojekte „Heroes“ und „DeuKische Generation e.V.“ darüber, was es eigentlich bedeute, deutsch zu sein. Beim Abschied kommt der Bundespräsident dann auch einen echten Döner überreicht, den er mit Freude und Genuss verspeist.
Zu einer Soirée lädt Gauck dann am Abend ein, hier sind im Schloss Bellevue unter anderem das Klavierduo Sonja und Shanti Sungkono und die Autorinnen Özlem Topcu, Khue Pham und Alice Bota eingeladen. An diesem Tag will Gauck ausdrücklich nicht mit Statistiken und Zahlen konfrontiert werden, sondern mit Menschen, „deren verschiedene Lebenssituationen unser Land prägen!“